von Denis Kuschel
Roadtrip Ost – Auf der B 96 von Zittau nach Sassnitz
„Route 66 des Ostens“ oder „Straße der Freiheit“, die legendäre Fernstraße trägt viele Spitznamen. Die B 96 ist mit über 500 Kilometern die längste Bundesstraße im Osten Deutschlands. Sie beginnt im südöstlichsten Winkel Ostdeutschlands und schlängelt sich von Zittau über Bautzen, Hoyerswerda und Finsterwalde nach Norden Richtung Berlin. Im weiteren Verlauf eröffnen sich – bedingt durch die ehemalige Teilung – zwei Möglichkeiten Berlin zu durchqueren: Die Strecke führt entweder über die B 96 durch Mariendorf, Kreuzberg und Wedding oder über die B 96a durch Adlershof, Friedrichshain und Pankow. Nördlich von Berlin vereinigt sich die Streckenführung in Birkenwerder und führt über Oranienburg, Neubrandenburg und Stralsund bis nach Sassnitz auf der Insel Rügen.
Ich hatte die B 96 bislang vor allem als das genutzt, was sie ist: Eine Straße um im Alltag zügig von A nach B zu kommen, zumeist mit dem Auto. So wie es tagtäglich Tausende tun. Dennoch musste es mit dieser Bundesstraße etwas Besonderes auf sich haben. Sie wurde besungen, war Gegenstand zahlreicher Reportagen und Reiseberichte und reizte auch immer wieder Menschen zu besonderen Aktionen. Legendär ist etwa die Geschichte von der ersten Oldtimer-Rallye von Zittau nach Sassnitz im Jahr 1989. Schon die Organisation der Rallye gestaltete sich seinerzeit als Abenteuer. Vermutlich gründet der Mythos von Freiheit vor allem auf Geschichten, die Generationen von Ostdeutschen in der Vergangenheit erlebt hatten. Früher – so wurde mir berichtet – war die B 96 (F 96) „die einzige Ausfallstraße, die aus Zittau herausführte“. Urlauber machten sich in und auf allem was Räder hat auf den Weg, den Sommerurlaub am Ostseestrand vor Augen. Ein Hauch von Abenteuer schwingt also immer mit.
Das Projekt
Eines der Bücher über die B 96 hatte auch mich inspiriert. Ich wollte mir ein eigenes Bild machen. Also machte ich mich mit dem Auto auf den Weg. Mein Fahrrad hatte ich auch dabei. Unterwegs lag es im Kofferraum und in den Städten erkundigte damit die Gegend. Ausgestattet mit Fotoapparat und Skizzenblock wollte ich die Orte entlang der Route portraitieren. Mein Ziel: Ich wollte die Ansichten von Städten zeigen, die in Geschichte und Gegenwart sehr unterschiedliche Entwicklungen genommen haben. Aus den einzelnen Arbeiten sollte eine Gesamtschau entstehen. Diese sollte die Unterschiede zwischen Stadt und Land, die Gegensätze zwischen Gestern und Heute und die Veränderung der Landschaft im Verlauf der Strecke zeigen.
Mein eigentlicher Roadtrip dauerte zwei Wochen. Eine Woche für den südlichen und eine Woche für den nördlichen Teil. Während der Tour hielt ich meine Eindrücke auf Fotos und Skizzen fest. Anschließend begann die eigentliche Arbeit in meinem Atelier. Ich verarbeitete meine Ideen zu zahlreichen Werken in unterschiedlichen Techniken. Mit der Arbeit an meinem Projekt habe ich etwa zweieinhalb Jahre zugebracht. Zur gleichen Zeit hatte die Pandemie unser Leben in weiten Teilen lahmgelegt. Ich hatte wohl ein ideales Corona-Projekt gefunden.
Die Stationen
Roadtrip Ost – Teil 1
Zittau
Mein Roadtrip auf der B 96 begann in Zittau. Über Zittau ist auch in den überregionalen Medien schon viel geschrieben worden. Im Jahr 2020 mit seiner alles bestimmenden Corona-Pandemie berichteten die überregionalen Medien im Sommer und Herbst über die Wutbürger an der B 96 zwischen Bautzen und Zittau. Immer wieder sonntags protestierten Corona-Leugner, Anhänger von Verschwörungstheorien, Rechtsextreme und andere gegen die Corona-Maßnahmen der Bundes- und Landesregierung. In den Wintermonaten folgten dann eher traurige Nachrichten von vielen Corona-Toten und überfüllten Krematorien.
Mein Blick auf Zittau ist positiv gefärbt. Zittau ist für mich zu allererst meine Geburtsstadt. Viele persönliche Erinnerungen mischen sich Erlebnissen aus zahlreichen Besuchen: Zittau als Ort der Kultur, als Ausgangspunkt für Wanderungen und Radtouren ins Gebirge, als Austragungsort vieler Sportveranstaltungen, als Wintermärchen in der Vorweihnachtszeit oder als Ort durchzechter Kneipennächte.
Die Bausubstanz der historischen Altstadt zeugt vom Wohlstand vergangener Tage. Gerade an warmen Sommerabenden kommt zwischen all den prunkvollen Villen, Brunnen und Türmen fast schon italienisches Flair auf. Gleichzeitig droht an vielen Stellen in der Stadt auch der Verfall, weil es an Investoren fehlt. In der jüngeren Vergangenheit hatte Zittau eher Schwierigkeiten, den passenden Platz zu finden. Das Schicksal der Abwanderung von überwiegend jungen gut ausgebildeten Menschen teilte Zittau über viele Jahre mit anderen Regionen Ostdeutschlands. Die Lage war wohl Fluch und Segen zugleich: Endet der Blick an Deutschlands Grenzen, liegt Zittau eher provinziell und fernab der industriellen Leuchttürme Sachsens. Bis zum nächsten Autobahnanschluss braucht man eine gute dreiviertel Stunde. In heutigen Maßstäben eine gefühlte Ewigkeit. Ist der Blick hingegen offener, ergeben sich ganz andere Chancen, denn dann liegt Zittau im Dreiländereck zwischen Deutschland, Polen und Tschechien und damit mitten in Europa.
Auf dem Weg von Zittau nach Bautzen blieb mein Blick an einem alten Werkstor hängen. In Sichtweite zur B 96 gibt es die Alte Spinnerei und Weberei in Ebersbach. Ein wahrer „Lost Place“, der viel über die Geschichte der Region verrät.
Bautzen
Bautzen kannte ich bis zu meiner Tour nur von der Durchreise, ein Besuch war also mehr als überfällig. Stellt man etwa im Berliner Raum die Frage, was die Leute mit Bautzen assoziieren, kommen immer wieder gleichlautende Antworten: Senf, Sorben, Stasi-Knast und eine schöne Altstadt.
Die Delikatesse für Würstchenliebhabende steht auch überregional in fast jedem Supermarkt. Daher firmiert Bautzen auch gern als „mittelscharfes Zentrum der Oberlausitz“.
Durchschreitet man die Altstadt von Bautzen erwartet einen ein beachtliches mittelalterliches Ensemble aus Türmen und Wehranlagen in traumhafter Lage oberhalb der Spree. Insgesamt war es während meines Besuchs eher ruhig, was vermutlich auch mit der Corona-Pandemie zu tun hatte.
Zum Pflichtprogramm gehörte für mich auch ein Besuch der Gedenkstätte im ehemaligen „Stasi-Gefängnis“. Zu diesem Themenbereich hatte ich zwar schon einiges gelesen. Den Ort des Geschehens zu besuchen, entfaltet dann aber eine deutlich intensivere Wirkung. Ich empfehle dafür eine der sehr gut gemachten Führungen. Anhand persönlicher Schicksale ehemaliger Insassen, werden die Ereignisse sehr anschaulich dargeboten.
Gleich mit zwei Gefängnissen gelangte Bautzen zu trauriger Berühmtheit. Ein ehemaliger Insasse von Bautzen II beschrieb Bautzen deshalb einmal sehr treffend „als traurige Schönheit“.
Bautzen I wurde 1904 am Stadtrand eröffnet und im Volksmund wegen seiner gelben Klinkerfassade „Gelbes Elend“ genannt. Im März 1950 führten die schlechten Haftbedingungen zu einem Aufstand der Gefangenen, welcher brutal niedergeschlagen wurde.
Bautzen II wurde 1906 als Gerichtsgefängnis eröffnet. Es liegt inmitten eines eher vornehmen Villenviertels auf der Rückseite des Amtsgerichtes. Das „Stasi-Gefängnis“ unterstand als Sonderhaftanstalt seit 1965 inoffiziell dem Ministerium für Staatssicherheit. Bis 1989 wurden dort etwa 2.400 Menschen eingewiesen, überwiegend aus politischen Gründen. Vor dem Hintergrund der Geschichte und dem Bemühen des DDR-Regimes, Bautzen II weitestgehend von der Öffentlichkeit abzuschirmen, wirkt die Lage des Gefängnisses eher befremdlich.
Trotz dieser eher schweren Kost, bleibt ein positiver Eindruck. Bautzen ist eine Reise wert und hat bei weitem noch mehr zu bieten.
Hoyerswerda
Die B 96 verläuft im Stadtgebiet von Hoyerswerda teilweise parallel zum Schwarze-Elster-Kanal, welcher Hoyerswerda in Alt- und Neustadt teilt.
Hoyerswerda erlebte seit den 1950er Jahren einen enormen Bevölkerungszuwachs. Als Wohnstadt für Arbeiter des Braunkohleveredlungswerks Schwarze Pumpe verzehnfachte die ehemalige Kleinstadt ihre Einwohnerzahl bis in die 1980er Jahre auf 71.000. Die Mehrzahl der Menschen lebte in der Neustadt, die eigenständig östlich der Altstadt in zehn Wohnkomplexen errichtet wurde. Die Neustadt gilt als Musterbeispiel des DDR-Städtebaus, die frühen Wohnkomplexe sind deshalb baukulturell bedeutend.
Ab Ende der 1980er führten Abwanderungsbewegung und Geburtendefizit zu einem massiven Bevölkerungsverlust. Zuletzt lag die Zahl der Einwohner bei etwa 32.000. Dies führte zu enormen Wohnungsleerstand, dem die Stadt mit Teilrückbau und Abriss von Plattenbauten begegnete. Entstanden sind große Freiräume mit viel Platz mitten in der Stadt.
Zu Fuß ist man in der unendlichen Weite der Neustadt ewig unterwegs. Ich habe für meine Erkundungen deshalb das Fahrrad genommen. Ich war an einem heißen Sommertag in Hoyerswerda unterwegs. Zugleich fegte ein heftiger Wind durch die großen Freiflächen. Mit geschlossenen Augen hätte man auf die Idee kommen können, man wäre an der Küste. Allerdings fehlte dafür die passende Geräuschkulisse aus Möwengeschrei und Meeresrauschen. Stattdessen: Stille. Für eine Stadt präsentierte sich Hoyerswerda außergewöhnlich leise.
Senftenberg
Fährt man von Hoyerswerda nach Senftenberg, schlängelt sich die B 96 im Ortsgebiet am Senftenberger See entlang. In Senftenberg habe ich die meiste Zeit in der Gartenstadt Marga zugebracht. Die Werkssiedlung wurde Anfang des 20. Jahrhunderts am Reißbrett entworfen und von der Ilse Bergabu AG errichtet. Diese wollte für die eigenen Beschäftigten ein lebenswertes Wohnumfeld schaffen. Die Gartenstadt Marga gilt als älteste ihrer Art in Deutschland. Das herrliche Ensemble wirkt wie eine kleine Stadt in der Stadt. Die Wohnhäuser und Gärten sind zwischen grünen Alleen kreisförmig um das Zentrum angeordnet. Dort gab es die Infrastruktur, die der Alltag brauchte: einem Markt mit Kirche, Schule, Kaufhaus, Läden und Werkstätten und einem Gasthaus. Mir gefällt der Gedanke, der dem Ganzen zugrunde gelegen hatte: Ein Unternehmen übernimmt soziale Verantwortung für seine Beschäftigten. Ein Modell das vor dem Hintergrund des angespannten Wohnungsmarktes in Städten und deren Umland aktueller denn je sein könnte.
Nach der Gartenstadt fuhr ich an den Senftenberger See mit seinem Stadthafen. Auf den Weg dahin, fährt man zunächst durch Plattenbausiedlungen. Der Senftenberger See ist künstlich angelegt und gehört zu einer ganzen Kette von Seen. Den Stadthafen mit Seebrücke und Liegeplätzen für Sportboote gibt es seit dem Jahr 2013. Die moderne Architektur wirkt attraktiv und ist neues Wahrzeichen der Stadt Senftenberg. Touristen können von dort auf Bootstour gehen, auf sie wartet das Lausitzer Seenland. Sehenswert – und in unmittelbarer Umgebung liegend – ist auch das Schloss mit seinem kleinen Schlosspark.
Finsterwalde
Finsterwalde ist ehemalige Kreisstadt, hat knapp 16 000 Einwohner und ist überregional für sein Sängerfest bekannt. Daher auch die offizielle Bezeichnung als „Sängerstadt“. In Finsterwalde hatte ich nach einem Stadtrundgang das Schloss besucht und anschließend im Schlosspark eine kleine Pause eingelegt. Auch hier hatte die DDR mal wieder auf ihre typische Art und Weise ihre Spuren hinterlassen und einen Plattenbau direkt in den Schlosspark gesetzt. Das so entstandene Ensemble wirkt eigenartig. Dort unter einem großen Baum auf einer Parkbank sitzend durfte eine skurrile Szene beobachten: Im Schloss muss es kurz zuvor eine Trauung gegeben haben. Die Hochzeitsgesellschaft hatte sich nun an der Schlossmauer für ein Fotoshooting eingefunden. Der Fotograf bemühte sich, das Hochzeitspaar und die Hochzeitsgesellschaft vor alten Schlossmauern romantisch in Szene zu setzen. Das skurrile an der Szene offenbarte sich nur mit etwas Abstand. Der Fotograf hatte die ganze Zeit den schon erwähnten Plattenbau im Rücken. Die Fotografierten schauten – sofern sie nicht direkt in die Kamera geschaut haben sollten – direkt auf die Platte. Vermutlich nur wenig romantisch.
Luckau
Zum Zeitpunkt meines Besuchs in Luckau gab es noch das Cartoon-Museum. Dessen Besuch zählte für mich als leidenschaftlicher Karikaturist natürlich zum Pflichtprogramm. Die seinerzeit aktuelle Ausstellung zeigte unter dem Titel „Friede, Freude…Eierkuchen?“ Karikaturen zu kaltem Krieg und fragilem Frieden von 1945 bis heute. In der Rückschau betrachtet, war diese Ausstellung aktueller denn je.
Luckau präsentierte sich während meines Besuches als ruhiges und malerisches Örtchen. In der Mitte ein historischer Stadtkern mit dem Hausmannsturm und der großen Stadtkirche St. Nikolai. Umlaufend zur Stadtmauer gibt es eine Parkanlage mit Graben und hübschen Brücken darüber.
Manche Bildideen muss man sich gar nicht ausdenken, denn die Wirklichkeit ist voll von tollen Bildmotiven. So auch in Luckau. Als ich in Richtung Stadtkirche schlenderte, sprang gerade der Fahrer eines top restaurierten amerikanischen Straßenkreuzers in seinen Wagen. Ein schönes Motiv! Vermutlich ein nicht allzu seltener Anblick, denn Luckau ist auch Austragungsort für das regelmäßig im Herbst stattfindende Oldtimertreffen mit Teilemarkt.
BERLIN
Über Berlin ist vieles gesagt. Das berühmte Zitat des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin bringt es aber immer noch ganz gut auf den Punkt: „Arm aber sexy“. Die Wirtschaftsdaten traditionell mau, dazu eine dysfunktionale Verwaltung und dennoch irgendwie dynamisch und natürlich total hip. Und bei alledem liebenswert. Ich mag Berlin, freue mich aber immer auch, irgendwann wieder „raus“ fahren zu können.
Die B 96 habe ich über beide Routen mit dem Rad erkundet. Die Route der B 96a über das Adlergestell fahre ich mittlerweile regelmäßig mit dem Rad auf dem Weg ins Büro. Wie in jeder Stadt, nimmt man seine Umgebung auf dem Rad viel intensiver wahr, als wie dies im Auto der Fall wäre. Dies kann zum Vor- und Nachteil sein. Manche Dinge möchte man vielleicht gar nicht wahrnehmen. Meiner Tour war es jedenfalls zuträglich, ich konnte jederzeit unkompliziert anhalten, Fotos schießen oder skizzieren. Das Überleben im Berliner Radverkehr ist eine Herausforderung. Mein Eindruck aber ist, es tut sich etwas. Die Stadt wird fahrradfreundlicher, auch wenn wir natürlich noch Lichtjahre von niederländischen Verhältnissen entfernt sind.
Eine lustige Anekdote erlebte ich im Bezirk Wedding: Unterwegs auf der B 96 empfahl mir maps plötzlich die Osramhöfe. Die hatte ich zwar nicht auf dem Plan, bin aber dennoch hingefahren. Ein Stück Industriekultur. In dem interessanten Gebäudeensemble wurden früher Glühlampen gefertigt. Heute finden sich dort Gewerbeflächen, ein Bildungscampus und eine Polizeiwache. Letztere sollte noch zum Problem werden. Die aufmerksamen Ordnungshüter hatten mich offenbar dabei beobachtet, wie ich fotografierend durch die Höfe schlich. Kurze Zeit später, ich war mit dem Rad schon weitergefahren, wurde ich plötzlich mit Blaulicht verfolgt. Eine wilde Verfolgungsjagd im Wedding? Nein, so schlimm war es nicht. Aber die Polizisten stellten mich zur Rede und erkundigten sich nach dem Grund für meine Fotos. Ich erzählte etwas von Roadtrip, Motivsuche und dergleichen – erkennbar zu viele Details. Erst ein Blick in mein Skizzenbuch konnte letztlich davon überzeugen, dass mein Besuch eher künstlerischen und nicht terroristischen Zwecken diente.
Roadtrip Ost – Teil 2
Den südlichen Teil der B 96 von Zittau nach Berlin hatte ich im Sommer 2020 absolviert. Im Sommer 2021 war ich wieder unterwegs auf der B 96 und bereiste mit geschärftem Blick den nördlichen Teil, der ihn von Berlin nach Sassnitz führt.
ORANIENBURG
Ausgebaut als vierspurige Schnellstraße lässt die heutige B 96 Oranienburg links liegen. Die frühere Route durchquerte die Stadt und führte am Schloss vorbei. Für mich war es der erste Besuch in Oranienburg. Bis dahin hatte ich Oranienburg nur im Zusammenhang mit folgenden drei Schlagworten wahrgenommen:
- Bombenentschärfung. Kein Jahr vergeht indem nicht im Radio die Entschärfung von einem der zahlreichen Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg gemeldet wird.
- Picknick in Weiß. Seit einigen Jahren strömen bei diesem festlichen Treiben an einem Mittwoch im Juli mehrere tausend weiß gekleidete Menschen mit Picknickkörben in den Schlosspark. Sie plauschen und feiern bei Kulinarischem und Livemusik.
- KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen. Sie veranschaulicht die Geschichte der Konzentrationslager Oranienburg und Sachsenhausen. Damit ist sie ein wichtiger Ort gegen das Vergessen zu einem dunklen Kapitel deutscher Geschichte.
Es gab also viel zu entdecken. So wie es vermutlich viele Touristen tun, startete ich meine Tour am Schloss Oranienburg. Direkt daneben liegt der Schlosspark mit seiner Orangerie und dem Schlosshafen. Oranienburg war im Jahr 2009 Austragungsort der Landesgartenschau. In diesem Zusammenhang ist der Schlosspark wiederhergestellt worden. Auch Schlossplatz und Uferpromenade an der Havel wurden neugestaltet.
Nachdem ich diesen touristischen Hotspot abgearbeitet hatte, ließ ich mich entlang der Havel treiben. Hier fand ich unter anderem tolle Brückenbauwerke wie den Louise-Henriette-Steg, viele bunte Graffitis und einen alten Kornspeicher.
MESEBERG
Der Ort Meseberg gehört zur Stadt Gransee und liegt nur etwa drei Kilometer von der B 96 entfernt. Auch wenn der Ort nur etwa 150 Einwohner zählt, ist er überregional bekannt für sein Barockschloss aus dem 18. Jahrhundert. Die Bundesregierung nutzt Schloss Meseberg als Gästehaus. Viel los ist dort in der Regel nicht. Aber wenn sich die Bundesregierung dort zu einer Kabinettsklausur trifft oder ausländische Staatsgäste empfängt, ist das immer eine Nachrichtenmeldung wert. Daher die Bekanntheit des Ortes.
Bei meinem Besuch präsentierte sich Schloss Meseberg vor wolkenverhangenem Himmel. Mit Ausnahme der wachhabenden Polizisten war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Das prächtige Anwesen beeindruckte aber auch bei tristem Wetter. Nachdem ich die Frontansicht mit Zufahrt und Ehrenhof festgehalten hatte, versuchte ich noch einen guten Blick auf die Parkseite zu erhaschen. Wie sich zeigte, ein aussichtsloses Unterfangen. Das Anwesen ist nahezu vollständig von hohen Mauern umgeben und ein Zutritt zum Park nur am „Tag des offenen Schlosses“ möglich. Da der Himmel zwischenzeitlich sämtliche Schleusen geöffnet hatte, brach ich ab und versuchte meine Ausrüstung vor dem strömenden Regen in Sicherheit zu bringen.
FÜRSTENBERG/HAVEL
Meine nächste Station war die Stadt Fürstenberg/Havel. Sie führt die vielsagende Zusatzbezeichnung Wasserstadt. Nicht ohne Grund: Vier Havelläufe und drei Seen gibt es allein im Stadtzentrum. Damit prägen viel Wasser und die hügelige Landschaft drumherum das Ortsbild. Allerdings führt auch die B 96 direkt durch die Ortsmitte. Erkennbar zum Frust der Anwohnenden. Protestschilder der Bürgerinitiative „B 96 raus“ sind allgegenwärtig. Die Bürgerinitiative kämpft seit Jahren für eine Umgehungsstraße.
Wichtigste Baudenkmale im Stadtgebiet sind das barocke Schloss Fürstenberg und die evangelische Stadtkirche am Marktplatz. Nachdem ich die Ortsmitte erkundet hatte, zog es mich zu einem wahren „Lost Place“. Unmittelbar am Röblinsee liegt das alte VEB Kraftfuttermischwerk. Dieses hatte früher vor allem regionale Landwirtschaftsbetriebe versorgt und seinen Betrieb im Jahr 1992 eingestellt. Seitdem nagt der Zahn der Zeit an dem alten Gebäudebestand. Es gibt Pläne, das gesamte Areal als Hafencity mit Einrichtungen für Freizeit, Erholung und Gewerbe wiederzubeleben. Ob es in absehbarer Zeit dazu kommen wird, ist ungewiss. An dem Tag meines Besuchs tauchten wolkenverhangener Himmel und kräftige Regenschauer den Ort in eine gruselige Untergangsstimmung.
NEUSTRELITZ
Neustrelitz liegt eingebettet in wunderschöner Landschaft inmitten der Mecklenburgischen Seenplatte. Wasser ist damit allgegenwärtig. Im Stadtgebiet gibt es mit dem Zierker See und dem Glambecker See gleich zwei Seen. Besonders gefallen hat mir der Stadthafen am Zierker See. Dieser dient als Wasserwanderrastplatz und bietet allerlei Einkehrmöglichkeiten. Und während man sich kulinarisch verwöhnen lässt, kann man das Treiben im Hafenbecken beobachten: Große Hausboote, die von Hobbykapitänen eingeparkt werden wollen und ein Hafenmeister, der bei alledem voller Hilfsbereitschaft die Ruhe bewahrt. Toll.
Die frühere Residenzstadt verfügt über ein beachtliches Ensemble historischer Baudenkmale. Fast wie ein kleines Potsdam. Allein der Marktplatz beeindruckt – im Quadrat angelegt – mit beachtlichen Abmessungen. Immerhin acht Straßen treffen hier aufeinander.
Zu Neustrelitz gehört auch die Strelitzie. Im Jahr 1822 blühte in der fürstlichen Orangerie am Schlossgarten eine Strelitzie. Erstmals in Deutschland. Seit dem Jahr 1995 ist die Strelitzie die Stadtblume von Neustrelitz.
NEUBRANDENBURG
Da ich meine Kindheit und Jugend überwiegend in Vorpommern verbracht habe, kannte ich Neubrandenburg bereits. Zumindest das Neubrandenburg der 1990er-Jahre. Vom Stettiner Haff aus brauchte man mit dem Auto knapp anderthalb Stunden. Anlässe, nach Neubrandenburg zu „reisen“, gab es regelmäßig: Facharztbesuche, Einkäufe oder später ein Besuch in einer der riesigen Diskotheken. Auch die Erinnerung an eine Fahrradtour von Ueckermünde nach Neubrandenburg mit Umrundung des Tollensesees ist mir noch präsent.
Prägend für mich waren seinerzeit zwei Dinge: Plattenbauten und Sport. Die Plattenbauten waren allein ob ihrer Menge und Größe enorm präsent. Dennoch wurde Neubrandenburg nicht müde darin, sich als Vier-Tore-Stadt zu vermarkten. Nicht ohne Grund: Die Stadtmauer mit ihren Wiekhäusern und den vier Stadttoren ist wirklich sehenswert.
Daneben der Sport. Schon damals stand Neubrandenburg gleichermaßen für Breiten- und Spitzensport. Wer auch immer es aus unserer Region sportlich zu etwas bringen wollte, den zog es nach Neubrandenburg. Zumeist auf das Sportgymnasium. Heute ist Neubrandenburg Olympiastützpunkt in den Sportarten Leichtathletik, Kanu und Triathlon. Viele erfolgreiche Athletinnen und Athleten kamen und kommen aus Neubrandenburg.
Meine Tour in Neubrandenburg startete ich zunächst mit einer Umrundung der Innenstadt entlang der Stadtmauer. Besonders prägnant für die Innenstadt ist aber auch der sogenannte HKB-Turm (Haus der Kultur und Bildung) auf dem Marktplatz. Das Turmhochaus ist 56 Meter hoch und ein Musterbeispiel für modernistische DDR-Architektur. Anschließend zog es mich zunächst in die Ost- und später in die Südstadt. In den Hochhaussiedlungen findet man Plattenbauten in allen denkbaren Erscheinungsformen. Einige stehen mittlerweile unter Denkmalschutz, etwa auch das Gebäudeensemble in der Neustrelitzer Straße 49 bis 109. Zwischen all den Plattenbauten versuchte ich deren besondere Ästhetik einzufangen. Ich beendete meine Tour mit einem Besuch der Sportstädten (Jahnsportforum und Jahnstadion) und einem Abstecher zum Tollensesee.
Stralsund
Offiziell heißt es stolz Hansestadt Stralsund, das Marketing spricht auch vom „Tor zur Insel Rügen“. Die historische Altstadt von Stralsund gehört gemeinsam mit der Altstadt von Wismar zum UNESCO-Weltkulturerbe. Unzählige Sehenswürdigkeiten künden von Stralsunds Vergangenheit als wichtige Handelsstadt an der Ostsee. Die hohen Kirchtürme von St. Jakobi, St. Marien und St. Nikolai prägen die Skyline von Stralsund und sind von weitem gut sichtbar.
Stralsund ist aber nicht nur touristisches Zentrum und Weltkulturerbe. Zu Stralsund gehören ebenso die großen Plattenbausiedlungen Knieper und Grünhufe, die ein ähnliches Schicksal erlitten, wie vergleichbare Siedlungen in anderen Städten Ostdeutschlands: vor 1990 beliebtes Wohngebiet, danach von Abwanderung geprägt und manchmal auch Entwicklung zum Problemviertel.
Für mich beginnt ein Besuch in Stralsund immer mit einem kurzen Gedanken daran, dass ich nach meinem Studium in Berlin beinahe in Stralsund gelandet wäre. Was wäre wohl gewesen, wenn…? Ich hatte mich aus guten Gründen gegen das Jobangebot aus Stralsund entschieden, weshalb ich heute zumeist als Urlauber auf der Insel Rügen in die Gegend komme.
Während meiner Tour hatte ich in Stralsund wunderbare Unterstützung. Der Mitarbeiter an der Hotelrezeption fragte mich am ersten Morgen nach den Plänen für meinen Tag. Ich erzählte ihm von meinem Projekt und den Stationen, die ich in Stralsund ansteuern wollte. Er war davon sichtlich begeistert und versorgte mich während meines gesamten Aufenthalts immer wieder mit wertvollen Tipps. Das Ganze gipfelte in einer gemeinsamen Fachsimpelei darüber, zu welcher Uhrzeit wohl die besten Lichtverhältnisse gegeben wären, um von Altefähr das Panorama der Stralsunder Altstadt einzufangen. Am nächsten Morgen radelte ich los und saß kurz nach acht im Hafen Altefähr. Der Himmel strahlend blau, das Stralsund-Panorama bestens ausgeleuchtet. Manchmal passt es einfach.
Zurück in Stralsund erkundete ich die Altstadt mit ihren mehr als 800 denkmalgeschützten Häusern. Zu den bekanntesten Touristenzielen gehört sicher das Deutsche Meeresmuseum mit dem OZEANEUM. Die Publikumslieblinge des OZEANEUMs leben indes auf dessen Dachterrasse: Humboldt-Pinguine mit grandioser Aussicht. Weitere Highlights sind der Stadthafen mit der Gorch Fock I, die großen Kirchen, das Rathaus am Alten Markt und zahlreiche Yachthäfen und Marinas in der Nähe zur Altstadt.
Dänholm
Jeder Gast der Insel Rügen kennt den alten Rügendamm mit der Ziegelgrabenbrücke und die im Jahr 2007 eröffnete Rügenbrücke. Der alte Rügendamm hat sich Generationen von Ostseegästen ins Gedächtnis eingebrannt, wenn die Ziegelgrabenbrücke mal wieder im geöffneten Zustand für längere Wartezeiten gesorgt hatte. Dies weis die neue Rügenbrücke zu vermeiden. Sie ist eine elegante Schrägseilbrücke, als solche zugleich eine imposante Erscheinung und mittlerweile auch Wahrzeichen der Hansestadt Stralsund. Wenn man über die Rügenbrücke fährt, eröffnet sich einem eine fantastische Aussicht. Je nach Fahrtrichtung aufs Wasser – in Gedanken bereits den Urlaub vor Augen – oder etwa auf die Stralsunder Altstadt. Dies führt zugleich dazu, dass vermutlich die meisten ein Fleckchen Land übersehen werden. Denn, wer bitteschön kennt den Dänholm?
Der Dänholm ist eine kleine Insel im Strelasund zwischen Stralsund und der Insel Rügen. Die Rügenbrücke geht direkt oben drüber. Er dürfte wohl vor allem Seglern und Marinefans bekannt sein. Das Marinemuseum Dänholm zeugt etwa von einer langen Geschichte Dänholms als Marinestützpunkt. Er wurde von der preußischen Kriegsmarine, der Reichsmarine, der Nationalen Volksarmee bzw. deren Volksmarine und kurz auch von der Bundesmarine genutzt.
Während meiner Skizzen in Altefähr stand ich im kurzen Austausch mit einem Freund aus Zeuthen. Dieser hatte am Vorabend im Fernsehen den „Stralsund“-Krimi gesehen. Darin hatte es eine wilde Verfolgungsjagd durch einen Garagenkomplex gegeben. Er meinte, das wäre etwas für mich – schon allein wegen der vielen bunten Garagentore. Es dauerte ein wenig, bis wir den Ort des Geschehens ausfindig gemacht hatten: Dänholm. Also, nichts wie hin. Dort angekommen war meine Begeisterung groß. Ein riesiger Garagenkomplex, mit in mehreren Riegeln aufgereihten Garagen. Soweit so normal, vielleicht sogar öde. Mich allerdings reizten die farbigen Garagentore. Eine Reihe in Blau- und Türkistönen, die nächste rot, wieder andere gelb und orange. Ich begann die Garagen aus allen Blickwinkeln zu fotografieren und wurde damit auffällig. Ein Paar – vermutlich Ende 50 – sprach mich an und fragte, was ich da treiben würde. Ich erklärte, dass es sich in meinen Augen bei den Garagen um interessante Motive handelte, die es festzuhalten lohne. Die Reaktion war ebenso barsch wie unmissverständlich: Man könne sich nicht vorstellen, dass dies jemand schön fände. Es seien schließlich nur Garagen. Und im Übrigen könne ich hier nicht so einfach herumfotografieren. Diskutieren erschien mir bereits nach kurzer Zeit zwecklos und ich hatte keine Lust auf irgendwelche Auseinandersetzungen. Ich ließ die beiden stehen und setzte meine Fotosafari fort. Vermutlich hatte ich das Paar in dem Glauben zurückgelassen, ich würde mit meinen Fotos die nächste Einbruchsserie vorbereiten.
Sassnitz
An einem Kreisverkehr in Sassnitz endet die B 96 und damit meine Tour. An diesem Punkt konkurrierten gleich zwei Gebäude um meine Aufmerksamkeit. Einerseits das ehemalige Kino „Stubnitz-Lichtspiele“, bei dem man sich noch gut vorstellen kann, wie hier mal das Leben getobt hatte. Auf der anderen Seite das bekannte „Rügen-Hotel“. Der markante Neungeschosser hatte sich schon zu DDR-Zeiten um internationale Gäste bemüht und ist sich seither in seinem Erscheinungsbild treu geblieben.
Anschließend zog es mich hinunter zum Stadthafen. Etwas wehmütig spazierte ich die etwa anderthalb Kilometer lange Mole entlang bis zum Leuchtturm. Es war früh am Morgen und die Mole menschenleer. Ein schöner Abschluss für eine Tour, die mich von der Oberlausitz quer durch Ostdeutschland bis an die Ostsee geführt hatte.
Nach der Mole erkundete ich auch den Rest von Sassnitz. Für mich besticht der Ort durch seine besondere Mischung: Nicht nur Bäderarchitektur und Ausflugsdampfer, sondern auch Arbeiterstadt mit Fischereihafen, an dem die Spuren harter Arbeit allgegenwärtig sind.
Interessant fand ich in diesem Zusammenhang auch das Ensemble aus alter Fischhalle und tausenden sauber aufgereihten und übereinandergestapelten Fischkisten. Die kunterbunten Kisten aus den unterschiedlichsten Herkunftshäfen könnten fast als Kunstinstallation durchgehen. Wie sich herausstellte, stehen sie auch nicht ganz zufällig dort. Ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung Sassnitz hat mir verraten, dass dort deutlich mehr Fischkisten stehen würden als eigentlich notwendig – gerade, weil die Kisten bei den Urlaubsgästen so beliebt seien. Bin ich hier etwa einem Touristennepp auf dem Leim gegangen? Egal, mir hat es gefallen. Und ein leckeres Fischbrötchen bei Kutterfisch habe ich mir dennoch gegönnt. Die schmecken wie immer am besten, wenn man beim Verzehr aufs Wasser schaut, sich den Wind um die Nase wehen lässt und die Möwen um die Wette kreischen.